Stefans Leben und meine Geschichte

Stefan ist tot wir müssen weitergehen ohne ihn.

Christian und Janine haben den Tod ihres Bruders schrecklich miterleben müssen.

Die denken immer alle: ich bin so cool und so stark. Das mag den Anschein auch hergeben, doch die Sehnsucht nach meinem Stefan tut mir fast körperlich weh. Die einzigen, die das wirklich miterleben, wie ich zuhause leide, sind Rainer und Christiana.

Was mir ein wenig geholfen hat, nicht wahnsinnig zu werden oder Tabletten zu essen, sind eben meine Kinder und auch meine Arbeit. Ich arbeite als Möbelverkäuferin in einem großen Möbelfachgeschäft in Braunschweig (In der Nähe von Hannover). Dort lebe und wohne ich auch. In dem gleichen Haus hatten wir die Möglichkeit, im Erdgeschoß eine Wohnung für Christian und Christiana sowie im Dachgeschoß eine für Stefan und mich zu finden.

Ein Jahr später war sogar noch nebenan eine Wohnung für Rainer frei. So haben wir alle die Möglichkeit, im selben Haus zu wohnen. Leider wird diese Idylle bald vorbei sein, nicht nur wegen Stefans Verlust, sondern auch weil es Ärger mit dem Vermieter gibt. Daher werden wir hier bald ausziehen, was mir persönlich sehr weh tut, da Stefan nur 50 Meter entfernt auf dem Friedhof liegt

Zurzeit bin ich nicht gerne auf dieser Welt. Es ist alles grau und dunkel und voller Streß und daher bekomme ich Depressionen.

Ich möchte nun ein wenig von uns erzählen.

Stefan hat Borderline. Wir wussten bis zu dem Tag gar nicht was das ist.

Tief in meinem Herzen hatte ich immer Sorgen und Kummer um meinen Sohn Stefan. Stefan ist das mittlere von drei Kindern. Acht Wochen zu früh geboren und immer krank gewesen. Aber sonst ein ganz lieber, aufgeweckter Kerl. Er hatte ein normales Verhältnis zu seinen Geschwistern. Er war auch in der Schule nicht schlecht, jedoch fürs Abi hat es nicht gereicht. So hat er es bis zum Realschulabschluss geschafft.

Jeder von uns liebte alle drei Kinder, trotzdem waren sie irgendwie immer ein wenig ‚eingeteilt’. Janine als Nesthäkchen war Papas Liebling. Christian als erstes Enkelkind der Familie Wessel war eindeutig Omas Liebling (Detlevs Mutter, sie betreute ihn auch einige Zeit). Stefan war eindeutig der Liebling von Mama und ‚kleine Oma’ (meiner Großmutter). Zum Glück hat meine kleine Oma dieses Drama nicht mehr miterleben müssen. Sie liegt auf dem gleichen Friedhof, 50 Meter Luftlinie von Stefan entfernt.

Damals war es uns noch nicht klar, aber Stefan trug es schon in sich: Diagnose: BORDERLINE-SYNDROM. Manchmal stürmte er voller Elan auf neue Ziele los und an manch anderem Tag versank er in tiefer Traurigkeit, wenn er nämlich feststellte, dass seine eigenen Ziele zu hoch gesteckt waren. Auch selbst verletzendes Verhalten kommt bei diesem Krankheitsbild öfters vor. Stefan hatte sehr stark zerschnittene Arme. Das führte dazu, dass er immer langärmlige Shirts tragen musste. Auch im Hochsommer. Er schämte sich teilweise dafür. Wenn er mal ein Vorstellungsgespräch hatte trug er immer eine Jacke. Da Stefan volljährig war, bekam ich ohne seine Erlaubnis keine Auskünfte von den Ärzten. Bis zu dem Zeitpunkt wusste ich nur, dass ,Borderline' eine Titelmusik von Chris de Burgh war. Ich hätte ihm so gerne mehr geholfen und wünschte mir, ich könnte die Zeit zurück drehen. Doch ich war mit meinem Kummer um ihn ganz alleine.

Zu dem Zeitpunkt hatte ich eine kleine Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung und in dieser musste ich plötzlich mit vier Personen leben. Da war: Rainer (mein Freund), dann Christian (der kam auch zu mir zurück) und dann kam da noch Stefan. Also suchten wir uns ein Haus zur Miete (ziemlich weit außerhalb der Stadt), in dem jeder ein eigenes Reich für sich hatte. Wir renovierten und wuselten und waren alle recht glücklich.

Bis zu dem ersten Suizidversuch unter meinem Dach von Stefan im Mai 2001. Er hatte sich aufgelöstes Rattengift in die Venen gespritzt. Dort haben wir ihn rechtzeitig gefunden und in die Klinik gebracht. Dort lag er eine Woche auf der Intensivstation, von dort aus ist er gleich in eine psychiatrische Klinik nach  Königslutter gebracht worden, wo er fünf Monate verweilte. In der Zwischenzeit bin ich umgezogen in einen Ort, von dem aus ich besser zu meiner Arbeit gelangen konnte und von dort aus auch Stefan eine bessere Anbindung an die Stadt hatte. Im September kam er zu mir nach Hause.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich immer wieder Hoffnung. Doch mein Herz war voller Sorge. Ich sah, wie mein Sohn litt. Sein Bruder arbeitete in der Firma des Vaters und die Schwester lebte beim Vater. Er kam sich vor wie ein Versager. Er hatte keine Arbeit und seine Berufsausbildung hatte er abgebrochen. Ich liebte ihn so, wie er war. Aber dies schien ihm nicht genug gewesen zu sein. Er wollte es allen beweisen (besonders seinem Vater), dass er auch was kann.

Zeitweise ist ihm das auch geglückt, denn durch seine eigene Initiative hat er immer wieder versucht, eine Lehrstelle als KFZ-Mechaniker zu bekommen. Er hat sich bei Auto 5000 in Wolfsburg beworben und auch alle Tests prima bestanden. Leider waren die Fördermittel des Arbeitsamtes schon vergeben und so erhielt er die Stelle nicht.

Dann gelang es ihm ganz allein, einen Ausbildungsplatz bei Voets in Braunschweig zu bekommen. Er war dort sehr glücklich und sein Chef, Herr Ulitzka, war von ihm überzeugt. Im August 2003 fing er dort an. Doch das Unglück nahm seinen Lauf. Im Oktober 2003 brach er sich den Arm und konnte nicht mehr zur Arbeit gehen. Nach einigen Wochen Gips nahm er sich diesen ohne mein Wissen selbst ab und versuchte, in der Teile-Ausgabe zu arbeiten. Doch die Schmerzen waren so groß, dass er dann zu Hause blieb, ohne irgend jemandem den wahren Grund zu verraten.

Ich mache es mir heute noch zum Vorwurf, dass ich selber nicht intensiver nachgehakt habe, was mit ihm los war. Denn ich vermute, zu diesem Zeitpunkt hat er sich aufgegeben. Er hatte Angst, durch längeres Fernbleiben den Anschluss an seine Arbeit zu verlieren.

Detlev, der Vater von meinen Kindern, und ich, wir sprechen nicht sehr viel miteinander. In den letzten Jahren hatte ich ihn immer nur dann angerufen, wenn ich Hilfe für Stefan brauchte. Also rief ich ihn an und sagte: “Stefan hat einen Suizidversuch unternommen. Bitte hilf mir, ich schaffe es nicht mehr alleine."

Er ist natürlich zu seinem Sohn gefahren, war sichtlich erschüttert und konnte die Welt nicht begreifen, warum Stefan so etwas tat.

Dann mußte ich ihn wieder anrufen um ihm zu sagen: "Detlev, der Stefan ist tot". Ich hörte wie erschüttert er  am Telefon war.

Aber er spricht heute leider immer noch nicht mit mir. Mit dem Vater meines Kindes gemeinsam zu trauern war bis heute nicht möglich. Dieses hätte mir vielleicht ein wenig helfen können.

Stefans größte Freude, die er zu diesem Zeitpunkt noch hatte, war seine selbst komponierte Musik. Dafür verbrachte er Tag und Nacht seine Zeit. Er war sehr, sehr stolz darauf.

Auch hatte er große Sehnsucht nach einem eigenen Haustier. Als ich im August 2003 nach einem Kurzurlaub nach Hause kam, hatten wir Zuwachs: Er hat sich eine kleine Katze angeschafft. Dieses kleine Wollknäuel nannte er Tinka. Mit viel Liebe kaufte er alles was das Katzenkind brauchte selbst ein.

Tinka lebt noch heute bei mir. Ich werde sie niemals weggeben. Ich bin froh, dass er sie mir gelassen hat.

Und nun wieder zurück zum Dezember 2003. Wir haben später erfahren, dass Stefan sich am 15. Dezember im Internet im Selbstmord-Forum angemeldet hatte. Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt eine schöne Adventszeit und auch Weihnachten. Obwohl Stefan Weihnachten nicht mochte. Sylvester haben wir noch mit ihm in der Familie zusammen gesessen und ich konnte ihn da noch einmal drücken und küssen. Wir haben zwar in einer Wohnung zusammen gelebt, aber ich habe ihn seinen eigenen Weg gehen lassen.  Wenn er mich brauchte war ich für ihn da, was er auch nutzte. Doch dann wieder war er oft tief in sich gekehrt und bekam den Mund nicht auseinander. Dadurch kam es vor, dass wir uns manchmal zwei oder drei Tage nicht gesehen haben. Er hat nachts an seiner Musik gearbeitet und am Tage geschlafen und bei mir war es umgekehrt.

Am 2. und 3. Januar musste ich arbeiten und kam spät nach Hause. Am 4. Januar (Sonntag) habe ich morgens meine Wohnung sauber gemacht und Stefan schien noch zu schlafen. Gegen Mittag bin ich spazieren gegangen und zu meinen Eltern gefahren. Am frühen Abend war ich wieder zu Hause und legte mich auf mein Sofa und sah fern. Im Laufe des Abends wunderte ich mich darüber, dass Stefan sich überhaupt nicht sehen ließ. Mir wurde plötzlich ganz komisch und mulmig zumute und ich musste ins Badezimmer.

Danach war mir immer noch komisch zumute. Auf einmal sprang ich wie von der Tarantel gestochen hoch, riss Stefans Zimmertür auf und sah ihn auf seinen Bett liegen mit einer blauen Mülltüte über den Kopf. Da Stefan im Zimmer kein Licht hatte fiel der Lichtschein vom Flur in das Zimmer herein. So konnte ich nicht genau sehen, warum er die Tüte um den Kopf hatte. Ich riss also daran und glaubte zu diesem Zeitpunkt, er hält sie fest. Ich bin dann mit zwei Schritten an der Haustür von Christian gewesen. Ich sagte zu Christian: "Komm schnell, es ist was passiert!" Christian war in zwei Schritten oben in Stefans Zimmer und riss die Tüte vom Kopf seines Bruders. Den Satz von ihm: 'Oh Mama, nein, nein, Oh Mama, nein nein' werde ich mein ganzes Leben nicht vergessen. Er versuchte, seinen Bruder wieder zu beleben. Doch Stefan war schon seit Stunden tot, bestätigte der Arzt später.

Wie geht das Leben ohne ihn weiter. Ich habe zu diesem Zeitpunkt festgestellt, dass man viele, viele Tage ohne feste Nahrung tatsächlich leben kann. Ich hatte über eine Woche nur getrunken. Ich konnte nichts essen.

Am 5. Februar 2004 musste ich dann ins Krankenhaus, wo man mir die komplette Schilddrüse entfernen musste.  Am Tag meiner Entlassung haben mich dann Rainer und Christiana abgeholt, was mich gewundert hat. Es sollte nur Christiana kommen.

Beide schneeweiß im Gesicht und sichtlich erschüttert. Das erste, was Christiana  zu mir sagte: "bleib ganz ruhig, Christian hatte einen Autounfall". Ich fuhr von meinem Krankenhaus in sein Krankenhaus und sah das ganze Ausmaß. Christian hatte in der Nacht zuvor in Stefans Zimmer gesessen, seine Musik gehört und Bilder angesehen. Dabei trank er ziemlich viel Bier. Dann ging er zu seinen Wagen und wollte dort Stefans CD hören. Was ihn dann überkam, er weiss es nicht und wir auch nicht.  Er fuhr los! Auf der A39 nach Wolfsburg überschlug er sich mehrmals und landete im freien Feld. Wären dort Bäume gewesen wäre er sofort tot. Der Wagen platt und Totalschaden, er musste von der Feuerwehr aus dem Wagen geschnitten werden.

Ich werde dem Menschen, der diesen Unfall gemeldet hat, für immer dankbar sein. Denn in dieser Nacht waren starke Minusgrade, die für den Christian sehr gefährlich hätten werden können.

Zum Notarzt, der ihn aus dem Auto holte, sagte er: 'Sie müssen noch mal nachschauen, mein Bruder saß neben mir.' Sie haben dann den ganzen Graben nach Stefan abgesucht. Christians Schutzengel hieß Stefan. Christian kann mit dem Tod seines Bruders sehr, sehr schwer umgehen. Er sagte zu mir: 'Mama, als Stefan gestorben ist, saß ich unter ihm und las ein  Buch.' Das muss ich erst mal richtig verarbeiten.

Christian hat seit einiger Zeit seinen Führerschein wieder und seine Alkoholfahrt in einem eigenen Forum aufgearbeitet (www.mpu-forum.de ).

Janine versucht den Tod Ihres Bruders zu verarbeiten, indem sie sich damit überhaupt nicht konfrontiert. Sie versucht, nicht daran zu denken. Sie meidet alles, was mit Stefan zu tun hat und versucht so, zu überleben.

Auch um sie hatte ich in letzter Zeit große Sorge. Auf ihrer Hinfahrt von Neustadt/Rbge. nach Braunschweig geriet sie auf der vom Regen überfluteten Autobahn in Aquaplaning, drehte sich und schlug in die Leitplanke ein. Das Auto war ebenfalls Totalschaden, doch Gott sei Dank ist ihr außer einem schweren Schock nichts passiert. Sie wurde für einen Tag ins Krankenhaus eingeliefert und am nächsten Tag wieder entlassen.

Ihr seht, das Jahr 2004 ist grauenvoll gewesen.

Stefan hat mit seinem Suizid die gesamte Familie getroffen, doch ich glaube, wenn er geahnt hätte, was er mit seinem Suizid anrichtet, vielleicht hätte er es nicht getan?

Er hatte die letzten Jahre ohne große Freude gelebt immer in seiner eigenen Welt eingeschlossen mit einer vagen  Aussicht auf Heilung. Daher müssen wir hier unten dafür sorgen dass er im Himmel glücklich leben kann. Das kann er aber nur wenn er sieht dass es uns hier unten gut geht. So sagte es mir auch Christian.

Die Grabstelle neben Stefan auf dem Friedhof wird im Frühjahr als Doppelgrabstelle hergerichtet, damit irgendwann einer von uns bei ihm ist. Wir werden alles tun, damit das Leben uns wieder lebenswerter erscheint. Auch ich werde meinen teil dazu beisteuern, d.h. ich gehe zum Arzt, ich gehe zur Therapie, ich beantrage eine Kur, ich treffe mich viel mit Freunden und habe viele andere Termine. Doch zur Zeit sind meine Gedanken ganz dunkel.

Was mir ein wenig geholfen hat, war in jedem Falle meine Arbeit. Ich habe dadurch eine Aufgabe. Auch wenn  es mir an manchen Tagen sehr schwer fällt, zur Arbeit zu gehen. Dazu kommen zwei, drei besonders gute Freunde und meine Familie. Obwohl ich gerade mit der eigenen Familie über Stefan wenig reden kann (was mir wehtut) brauche ich meine Familie. Ich habe noch einen Bruder mit Frau und Kinder, die ich sehr gerne mag, und mit denen ich auch oft zusammen bin. Einmal im Monat treffen wir uns alle bei unseren Eltern, die ich auch sehr lieb habe und wo ich gerne bin.

Es ist viel passiert im Jahre 2004. Durch Stefans Tod habe ich lebenslänglich bekommen.

Bis zum letzten Atemzug muss ich mit der Trauer um Stefan leben.

Ich danke Euch allen von Herzen für die lieben Grüße und Eure liebevolle Unterstützung.

Cornelia Wessel, Stefans Mutter

 

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